Am 7. Februar feiern wir Johannes-Christen den 111. Geburtstag unseres im Juni 2001 heimgegangenen Oberhauptes Frieda Müller. Feiern? Oder gedenken wir ihrer, erinnern uns an sie?
Ich erinnere mich an viele persönliche Begegnungen mit Schwester Friedchen, die mein Leben stark beeinflusst haben. Das fing schon in meiner Kindheit an. Eine Verordnung von Minna Golz, zu der wir als Familie immer zum Sakrament der geistigen Heilung in die Gleimstraße fuhren, lautete: „Du fährst regelmäßig zu Schwester Friedchen in die Sprechstunde!“ So geschah es. Stolz „wie Bolle“ fuhr ich als Kind allein in Berlin noch vor dem Mauerbau mit der S-Bahn über die Sektorengrenze nach Nikolassee, kaufte mir am Bahnhof eine Tüte Sprotten und ging langsam zur Teutonenstraße, damit ich die Fische in aller Ruhe essen konnte.
In der Sprechstunde betete Schwester Friedchen mit mir und sagte mir manchmal Dinge, die ich bis heute nicht vergessen habe. Einige Male schimpfte sie mich fürchterlich aus und ich wusste manchmal überhaupt nicht, warum. Zwei Wochen später nahm sie mich dann in den Arm und sagte mir, dass es überhaupt nicht um mich ging, aber der Mensch, den es betraf, hätte diese Worte nicht verkraftet. Man müsse die Geister, die dahinter stehen, ansprechen. „Du aber kannst das verkraften.“ Das ist mir bis heute eine Erfahrung. Wenn Menschen schimpfen oder mich „anmachen“, denke ich: Es muss gesagt werden, aber sei nicht beleidigt oder sauer. Wenn es anderen hilft, ist es in Ordnung! – Mit einer geschenkten Schokolade ging es dann wieder zurück zur S-Bahn, langsam, denn die musste ja auch erst einmal aufgegessen werden.
Dann kam 1961 der Mauerbau, und meine Kontakte zu Schwester Friedchen waren nur noch per Brief möglich. Ich schrieb häufig Briefe, denn ich musste 1964 eine Berufsausbildung machen, was fast aussichtslos war, denn ich war nicht bei den Jungen Pionieren, nicht in der FDJ. Ich erhielt nicht die Jugendweihe, sondern die Konfirmation. Ich war kirchlich aktiv, mein Vater war selbstständig und zwei Jahre vor dem Mauerbau ging ich in West-Berlin zur Schule. Alle meine Berufsträume waren so hinfällig. Viele Briefe gingen an die Teutonenstraße, ebenso viele kamen zurück. Der Inhalt war immer der, dass ich nicht verzweifeln sollte, mein Beruf kommt noch. Die Zeit war noch nicht reif. Als ich nicht mehr glaubte, dass irgendetwas klappt, ergab es sich an einem Freitagnachmittag, dass ich Kirchenmusik studieren könnte. Sonnabendfrüh war die Aufnahmeprüfung und alles war geklärt. Schwester Friedchens Antwort war: „Ich habe dir doch gesagt: Verzweifle nicht, alles wird gut!“
Dann kam mein Studium in Görlitz. Schwester Friedchen hatte sich per Brief immer wieder erkundigt, ob alles gut ist und wie es mir geht. Dann hatte ich ein großes Problem mit der Staatssicherheit der DDR. Auf dringendes Anraten meines Professors habe ich alle „Westkontakte“ abgebrochen. Schwester Friedchen schickte mir daraufhin ein großes Paket, in dem allerdings bei Ankunft nur noch eine aufgebrochene und eingedrückte Packung „Edle Tropfen in Nuss“ war. Den Rest des Inhalts hatten wohl andere aufgebraucht. Aber über Boten und meine Eltern hat sie mich wissen lassen, dass sie ganz lieb an mich denkt und alles wieder gut werden würde – was ja dann auch so kam.
Ich wurde Kirchentag 1969 zum Prediger berufen. Da studierte ich noch in Görlitz. Ein erstes Treffen mit dem Oberhaupt fand danach während der Leipziger Messe statt. Wir saßen in einem Hotel zum Abendessen zusammen. „Wann fährt dein Zug?“, fragte sie mich. „Nach Berlin fährt immer ein Zug“, war meine Antwort. Das wiederholte sich noch zweimal. Willi Görike schickte mich dann zur Rezeption, um einen Zug zu suchen. Als ich in den Raum zurückkam, war der leer. Alle waren abgereist. Ich fuhr dann etwas verwirrt über Berlin nach Görlitz, um zwei Wochen später nach Berlin zu meiner ersten Predigt zu reisen. Ich traf mich am Samstagabend in Mahlsdorf mit Willi Görike in seinem Haus, um mit ihm den Gottesdienst abzusprechen. Die Begrüßung war so: „Einen schönen Gruß von Schwester Friedchen. Sie hat sich sehr über dich geärgert. Wenn du so mit deinen Zugverbindungen umgehst, kann sie dich als Prediger nicht gebrauchen!“
Wumms! Das hat gesessen! Ich bin jetzt über 52 Jahre Prediger, ich habe einen (!) Gottesdienst nicht erreicht, weil ich von meinem Trabant auf der Autobahn die Lichtmaschine verloren hatte. Ansonsten bin ich auch heute noch lieber zwei Stunden zu früh zu einem Gottesdienst, als eine halbe Minute zu spät. Danke, Schwester Friedchen!
Dann kamen die 1970er- und 1980er-Jahre. Schwester Friedchen regte an, im Waldfrieden pro Jahr einen „Empfang“ zu veranstalten, zu dem die Personen eingeladen wurden, mit denen unsere Kirche in der DDR „politisch“ zu tun hatte. Sie kamen aus Berlin, Luckenwalde, Potsdam, und die Kirche hatte die Möglichkeit, zu diesen Menschen auch einen persönlichen Kontakt aufzubauen. Ich durfte dabei sein, weil ich im offiziellen Teil für die Musik verantwortlich war. Ich erinnere mich an eine Rede einer sehr hochgestellten Person, die Folgendes sagte: „Frau Müller, ihr Ja ist ein Ja, ihr Nein ist ein Nein! Bei ihnen weiß man immer, woran man ist. Das macht die Zusammenarbeit mit ihnen immer angenehm!“
Nächstes Erlebnis: Predigerweihnachtsfeier in der Gottesdiensthalle im Waldfrieden. Ich frage Schwester Friedchen: „Wenn wir einen Geburtstagswunsch an dich übermitteln dürfen, willst du uns doch ganz bestimmt eine Freude machen. Richtig?“ Es kam ein fragendes: „Ja, wieso?“ Ich erwiderte: „Ich brauche keinen Anzug oder ein Hemd oder Schuhe. Ich möchte gerne eine Lokomotive für meine Eisenbahn.“ Pause. „Was kostet denn die?“ Ich: „Weniger als ein Anzug.“ Frieda rief daraufhin mit lauter Stimme durch die Halle: „Fine, der wünscht sich eine Lok.“ Ich habe im März Geburtstag, in den ersten Januartagen hatte ich meine Lok! Sie ist heute noch mein Stolz und meine „Friedalok“.
Schwester Friedchen konnte dann in jedem Jahr eine einwöchige Dienstreise durch die Gemeinden der DDR machen. Es war eine wunderschöne Zeit, aber manchmal war die Stimmung auch schwer. „Erhard, sing ein Lied!“ oder „Erhard, erzähle mal einen Witz!“ habe ich dann oft gehört. So durfte ich oftmals helfen, eine schwierige Situation etwas zu entspannen.
Es war im Jahr vor dem Mauerfall. Schwester Friedchen hatte alle Inhaber eines DDR-Dienstreisepasses, also auch mich, ins St.-Michaels-Heim eingeladen. Nach einem Gottesdienst und einem Mittagessen sagte sie, dass sie großen Wert auf den sich anschließenden Arbeitsnachmittag legt und dass sich alle zur Verfügung halten sollten. Dann ging sie vor dem Dank-Tischgebet zu Günter Schermutzki, neben dem ich saß, tuschelte etwas mit ihm, drückte ihm etwas in die Hand und sagte dann zu mir: „Ihr beide fahrt jetzt los. Günter zeigt dir alle Eisenbahnläden, die du sehen möchtest, und zum Abendbrot seid ihr wieder da.“ Traumhaft! Als wir wieder da waren, ging sie auf mich zu und fragte mich: „Bist du glücklich?“ Ich sagte natürlich: „Vollkommen. Ich habe für meine Loks eine Drehscheibe.“ Ihre Antwort war: „Das ist gut so.“ Sie konnte sich so richtig mitfreuen.
Nun bin ich bei meiner letzten Erinnerung. Es war das letzte oder vorletzte Silvester vor ihrem Heimgang. Auf ihren Wunsch sind wir von Berlin in den Stempferhof gefahren, um einen fröhlichen Abend zu gestalten. Ich erinnere mich an Helmut Raeschke und seine Kabarettgruppe „Schräge Rampe“, an Siegfried und Sigrid Lehmann, Ruth Heinrich. Gemeinsam durften wir einen wunderschönen Abend gestalten.
Am Neujahrsmorgen saßen wir dann im alten Speiseraum zum Frühstück. Schwester Friedchen kam mit Ewald Müller dazu und sprach Worte zum Jahresanfang, in denen sie fürchterlich über Süchte und Leidenschaften der Menschen schimpfte und anregte, im kommen Jahr dagegen anzukämpfen. Wir ließen alle die Köpfe hängen und waren bedrückt. Ich dachte, jetzt musst du die Stimmung retten! Als sie eine Atempause machte, sagte ich: „Ich habe auch eine Leidenschaft.“ Ihren Blick spüre ich noch heute und ihre Worte auch: „Was denn?!“ Ich sagte: „Meine Eisenbahn!“ Ihre Mundwinkel gingen nach oben, sie nahm mich in ihren Arm und sagte: „Das brauchst du.“
All diese Erinnerungen an Schwester Friedchen werde ich nie vergessen. Sie hat immer zu mir gestanden, mir geholfen, mich auf den Weg gebracht, den ich gehen soll und mir immer das Gefühl gegeben, dass sie für mich – aber auch für alle anderen – da ist! Dafür kann ich ihr nur danken.
Liebe Schwester Friedchen! Mit viel Liebe, Menschlichkeit und Verständnis hast du unzähligen Menschen den richtigen Weg gezeigt. Mit Konsequenz hast du den Glauben und die Kirche gelebt. Lass uns deinem Vorbild folgen. Danke, dass es dich gegeben hat!