Anders-Sein

Gemeindebrief
von Norbert Teschke I Bild: Konstanze Philipp
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In meiner Geburtsstadt gab es eine strenge Einteilung der Menschen: auf der einen Seite der Cranger Straße wohnten die Bergarbeiter mit ihren Familien, auf der anderen Seite die finanziell besser Gestellten. Es gab das ungeschriebene Gesetz, dass diese Gruppen sich nicht vermischten, schon gar nicht die gleiche Schule besuchten. Nach der 4. Klasse wurde die Trennung der Gesellschaft fundamentiert: ein Gymnasium wurde nicht von einem Kind eines Arbeiters ausgewählt. Dies war absolut undenkbar. Doch mein Vater ließ sich von einem Drogisten überzeugen, dass mein Weg zum Gymnasium gehen müsste, und so wurde ich Schüler des Max-Planck-Gymnasiums.

Plötzlich war mein Kontakt zu den Jungen der anderen Straße festgelegt. Täglich musste ich einen halben Tag mit ihnen verbringen, aber ich spürte immer einen Hauch von Ablehnung bei meinen Mitschülern. Viel schlimmer jedoch war die schmerzliche Erfahrung, dass ich nun ebenso von meinen Freunden in der Arbeitersiedlung „schief angesehen“ wurde. Es fühlte sich nicht gut an, plötzlich zu keiner Gruppe mehr zu gehören: ich war allein, weil ich anders war.

Auch meine Lehrer wunderten sich, dass ich als Arbeiterkind in ein Gymnasium kam, aber meine schulischen Leistungen rechtfertigten meine Gegenwart. Einen versteckten, geringen Grad der Ablehnung spürte ich dennoch. Ich fühlte mich anders, nicht akzeptiert.

Zu dieser Zeit fiel mir zum ersten Mal auf, dass auch in unserer Siedlung Menschen lebten, die anders waren: einige sprachen noch in dem Dialekt ihrer schlesischen Heimat, andere unterschieden sich durch ihre dunklere Haut und die schwarze Haarfarbe von mir, wieder andere eröffneten ein italienisches Restaurant mit einer Eisdiele.

Die Vielfalt an Nationalitäten und der Umgang der deutschen Bewohner mit den anderen Bevölkerungsgruppen fiel mir erst auf, als ich begann, mich selbst „anders“ und „fremd“ in meinem Umfeld zu fühlen.

Einige Zeit später siedelte ich ohne meine Eltern um. In der Familie meiner Schwester fand ich ein neues Zuhause. Die neue Umgebung in Berlin faszinierte mich, die Welt war eine andere geworden. In der Schule gab es kaum Ständedünkel, und es galt als normal anders zu denken, zu diskutieren und seine Meinung als junger Mensch gegen das Establishment zu artikulieren. Es war die Zeit um das Jahr 1968, die Zeit der Studentenunruhen. Dem neuen, lauten Wir der Jugend, dem Anders-Denken setzte Berlin bisweilen sehr harte Mittel entgegen. Dennoch war das Recht auf eine freie Meinungsäußerung nie in Gefahr.

Friedliche Demonstrationen mit dem Ziel eine neue, eine andere Weltordnung zu schaffen waren erlaubt. Es ging gegen undemokratische Herrscher, gegen die Aufrüstung der Welt mit atomaren Waffen, für die Gleichbehandlung von Frauen. Keiner der damaligen Demonstranten hätte sich vorstellen können, dass heute die Menschen im Iran unter einer viel schlimmeren Diktatur leiden müssen, dass die Abschreckung durch die Atomwaffen den „Frieden“ zwischen den Weltmächten erhält, dass die Frauen, selbst in Deutschland, im Jahr 2024 immer noch bei gleicher Arbeit weniger verdienen als Männer. Gegen Ende der 60-ger Jahre entwickelte sich in Amerika eine andere Protestbewegung, die sich ebenso gegen die herkömmlichen Werte richtete:

Der Hippie-Slogan „Make love, not war“ erschreckte gewiss nicht nur die „Erwachsenen“ in Amerika, denn auch in Deutschland breitete sich diese friedliche Jugendbewegung schnell aus. Beiden Gruppen jedoch war gleich, dass keine Unterschiede in Bezug auf Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht gemacht wurden. Die gesamte Gruppe war gegenüber der Umwelt anders, oft auch anders als gewünscht, innerhalb der Gruppe wurden aber keine Unterschiede gemacht. Alle waren gleich, nicht nur vor dem Gesetz. (Grundgesetz § 1, Art. 3)

Die verschiedenen, oben geschilderten Erfahrungen wird ein jeder von uns so oder in ähnlicher Weise gemacht haben. Persönliche Ausgrenzungen, falsche Beurteilungen oder sogar böswillige Verurteilungen sind in jeder Gemeinschaft zu finden. Was aber hat der Verurteilte denn falsch gemacht? - War es etwa nur ein anderes Verhalten? Welches Recht nimmt sich der „Richter“? - Vertritt dieser wirklich ein anderes Recht?

Gott schenkte uns vor langer Zeit die Zehn Gebote. Diese sagen in kurzer und leicht verständlicher Sprache, wie ein Gott gefälliges und den Menschen dienliches Miteinander in einer Gemeinschaft vollzogen werden kann. Steht dort etwas über die Herkunft, den sozialen Stand oder die Hautfarbe, etwas über das Anders-Sein? - Gott macht in den Zehn Geboten keinen Unterschied. Später lehrte uns Jesus Christus, wes Geistes Kind wir werden sollten. Er erzählte von dem Überfallenen, der verletzt und ausgeraubt auf einer Landstraße lag. Nicht der Priester, nicht der Levit, sondern der Samariter erbarmt sich des Opfers, ein Samariter oder wie es heute heißen würde: der Ausländer.

Hierhin passt eine kleine Szene, die ich vor kurzem in meiner Wohnnähe beobachtet habe: eine sehr alte Frau fuhr abends mit ihrem Rollator die Straße entlang. Im Korb hatte sie die auf der Straße abgestellten Pfandflaschen. Sie war schon etwa 20 Meter von einer Pizzeria entfernt, als ein junger Kellner ihr hinterher eilte, um ihr einen kleinen Geldbetrag zu schenken. Dann lief er wieder zu seinem Arbeitsplatz. - Ich nehme an, dass er immer so handelt, wenn er sie abends zufällig sieht. - Sie rief ihm ihren Dank nach und strahlte. Er war ein – Samariter, denn seine wirkliche Herkunft kenne ich nicht.

Als Jesus einmal zum Richten genötigt wurde, zeigte er seine göttliche Weisheit, indem er der aufgebrachten Menge quasi einen Spiegel vor ihr Gesicht hielt. Was war geschehen? - Eine Frau wurde unter lautem Geschrei durch die Straße gezerrt. Die wütende Menge wollte sie als Ehebrecherin nach mosaischem Recht steinigen. Jesus wendete sich an die Menge mit den Worten:

Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! Joh. 8, 7

Diese Antwort ließ sie aufhorchen und in sich gehen. Verschämt verließen alle den Platz. Und auch der Christus Gottes verurteilt sie nicht, ermahnt sie aber nicht mehr zu sündigen. Diese Güte und Größe Jesu fiel mir ein, als ich einmal mit einem Gospel-Chor in der Nähe der Potsdamer Straße in einer Andacht gesungen habe. Mehrere Frauen, stark geschminkt und sehr aufreizend gekleidet, waren in die Kirche gekommen, um als Gläubige teilzunehmen. Keiner der Gemeindemitglieder rümpfte die Nase. Keiner verurteilte sie. Die Frauen waren Prostituierte, die in der Nähe ihre Tätigkeit ausübten.

Bald 2.000 Jahre nach dem Heiland half und heilte Joseph Weißenberg in Berlin viele Menschen, nicht, um sich selbst zu erhöhen, sondern um dem Auftrag des Heilands zu folgen. Seine Botschaft war, Christi Leben zum Vorbild unseres Handelns zu erklären und die Liebe zwischen den Menschen größer werden zu lassen. Die Anzahl der Neider, Ankläger und selbst ernannter Verurteiler nahm zu und überzog Joseph Weißenberg mit einer Vielzahl von Prozessen, aus denen er jedoch letztendlich immer als Sieger hervor gehen konnte.

Der Meister selbst betete für seine Verfolger und sagte von sich, dass er keine Feinde habe, sondern die Feinde ihn. Er führte die Lehre Jesu Christi fort, der seinen Vater im Himmel am Kreuze leidend bat: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Luk. 23,34 Joseph Weißenberg folgte ebenso bis zuletzt seinem Auftrag, anders zu handeln, als es die Menschen seiner Zeit taten. Er setzte der Bosheit seiner Verfolger das Gebot der Nächstenliebe entgegen und blieb stets seinem Glauben treu. Der Nationalsozialismus, der unseren Meister verfolgt und verbannt hatte, verursachte den 2. Weltkrieg und schien als schrecklicher Irrtum nur noch in den Geschichtsbüchern und in unangenehmer Erinnerung als größter Fehler erwähnt werden zu müssen.

Anders als alle überzeugten Demokraten und wir Christen erwartet haben, scheint in den letzten Jahren der Keim des Bösen wieder auf fruchtbaren Boden gefallen und gewachsen zu sein. In Deutschland zitieren „Politikerinnen und Politiker“ Textstellen aus Reden von Nationalsozialisten, sie reden von echten Deutschen, sie fordern eine Ausweisung aller Nicht-Deutschen. Schamlos nutzen diese unser Grundrecht auf Redefreiheit aus, um den Menschen ihren Unfug mitzuteilen. Solch anderes Denken und Reden – dabei fällt es mir schwer, die Begriffe „Denken“ und „Reden“ zu verwenden – gehört auf den Müllhaufen der Geschichte, denn nur dorthin gehört es. Leider scheinen noch nicht alle zu verstehen, welche Folgen ein Erstarken dieser tot geglaubten, falschen Unlehre für uns haben könnte.

Anders als man aber hätte erwarten können, gehen Tausende Menschen, Alte und Junge, Christen, Muslime und Juden, Menschen der verschiedensten Herkunftsländer, gemeinsam auf die Straße, um zu erklären, dass es in Deutschland keinen Raum für das Unrecht gegen einen Menschen gibt und unser Deutschland für alle da ist. Der katholische Papst Franziskus soll vor kurzer Zeit bei einer Reise ins Zweistromland, dem Lebensraum Abrahams, den die Christen, Muslime und Juden gleichermaßen als Stammvater ihrer Religion anerkennen, gesagt haben, dass Gott unser aller Vater ist, sogar für die Menschen ohne Glauben. Man fühlt sich erinnert an den Wunsch Joseph Weißenbergs nach „einem Hirt und eine Herde“.

Wir als Weißenberger dürfen uns des Weiteren an des Gedicht erinnern, dass unser Meister oft gesprochen hat: Denn in der Seele liegt verborgen ein Funken reinster Gottesgeist. Wenn der erweckt, ist erst geworden, was Gottes Ebenbild wohl heißt.

An diesen Funken reinsten Gottesgeist mögen wir uns versuchen zu erinnern, besonders immer dann, wenn jemand oder etwas a n d e r s erscheint.

„Ich kenne keine Feinde. Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe. Dalai Lama