Ankommen

Gemeindebrief
von Beitrag und Fotos: Matthias Müller
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Wenn ich – mit Daggi oder allein – in der Stadt oder irgendwo im Land unterwegs bin, mache ich gern ein paar Fotos und stelle sie anschließend in meinen WhatsApp-Status. Das freut Menschen, die das betrachten, und gelegentlich bekomme ich eine Rückmeldung, dass das Anschauen der Bilder so ist, als ob man selbst dabei gewesen wäre … das schenkt mir Freude!

Meine letzte Reise führte mich in die Zentralschweiz, und nach der langen Zugfahrt (die Klimaanlagen funktionierten!) und nach kurzen Aufenthalten in Basel und Luzern (da war es ziemlich heiß!) kam ich halbwegs erschöpft, aber glücklich über die unproblematische Bahnreise in dem kleinen Ort Flüeli-Ranft an. Von den Schweizer Bahnen und Bussen weiß man ja, dass sie auf die Minute pünktlich sind, und das hat sich selbstverständlich bestätigt. Bei der Deutschen Bahn ist das ja nicht immer so, aber vermutlich lag es an meinem guten Bahn-Karma (meistens funktioniert es!), dass der ICE 2 Minuten vor der Zeit in Basel einrollte… Also, aus dem Postauto ausgestiegen, kurz orientiert, ob ich denn auch an dem Ort bin, an dem ich die nächsten sieben Tage verbringen werde, aus der Rezeption den Schlüssel für das einfache Zimmer abgeholt, den Koffer ein paar Stufen herunter- und wieder heraufgetragen und raus auf den Balkon, ein Foto machen. „Angekommen“ habe ich mit einem guten Gefühl daruntergeschrieben!

Dass ich am Beginn einer ganz anderen Reise angekommen war, wurde mir schnell klar …

Schon auf dem Weg zum Abendessen begegne ich Pierre Stutz, dem Schweizer Theologen und Autor, der gemeinsam mit Helge Burggrabe, Komponist, Musiker, Initiator von Friedens- und Musikprojekten und vieles mehr, die vor uns liegende Inspirationswoche gestaltet. „Ich bin Pierre, herzlich willkommen! Wer bist du?“ Eine wunderbare Sprachmelodie klingt in mein Ohr, die ich in den nächsten Tagen noch oft hören sollte! Viele der 40 Teilnehmenden kommen aus der Schweiz, einige aus Österreich. Ich höre das klare Hochdeutsch der Hannoveraner und verschiedene Dialekte aus dem Rheinland. Helge, der in der Nähe von Hamburg wohnt, und ich hatten vermutlich die längste Anreise … Ja, wir sind schnell beim Du, und es entsteht rasch ein Gemeinschaftsgefühl. Fun Fact: die Schweizerinnen (die Männer sind hier in der Minderzahl) entschuldigen sich ab und zu bei mir, wenn sie sich in ihrer Mundart unterhalten, weil ich dann ja nichts verstehe, sie mich aber auch nicht ausschließen wollen … ich freue mich einfach an dem Klang ihrer Sprache. Pierre erzählt an einem Abend von einem Freund aus Deutschland, der, wenn es ihm mal stimmungsmäßig nicht so gut geht, das Schweizer Fernsehen einschaltet …

„Der eigenen Visionskraft trauen“ ist das Leitthema dieser Woche, und der Ort dafür ist nicht zufällig gewählt. Niklaus von Flüe, der mit seiner Frau Dorothee Wyss an diesem Ort vor 600 Jahren lebte, bildet mit seinem Leben und seinen Visionen die „Rahmenhandlung“, die Pierre und Helge mit geistlichen Impulsen, Lebensworten und Musik anreichern und wir in Gesprächen, Besinnung, Stille und Gesang aufnehmen, bearbeiten und tragen.

Niklaus von Flüe war Bergbauer, Soldat, Richter, einflussreicher Politiker, Seelsorger und geistlicher Ratgeber. Er gilt als Schutzpatron der Schweiz. Das könnt ihr bestimmt irgendwo nachlesen und vertiefen, wenn ihr wollt. Niklaus verließ im Alter von 50 Jahren alles, was ihm lieb war, und lebte fortan als Bruder Klaus 20 Jahre lang gottsuchend und betend allein in der Nähe seines früheren Wohnhauses und seiner Familie.

Einige seiner Visionen und das Gebet, das er täglich und oft betete, sind überliefert, und wir nehmen sie zur Grundlage unserer inneren und äußeren Arbeit für Frieden und Verständigung. In einer Vision sah Bruder Klaus einen Turm; dieses Bild bestärkte ihn, ein „einig Wesen“ zu suchen. Wo berühren sich Himmel und Erde? Kennst du solche Orte oder Situationen? Berühren sie sich in dir, in mir? Hast du Visionen, Träume, die du noch umsetzen möchtest? Spürst du eine Lebensaufgabe, mit der du himmlisch verbunden bist? Einige Fragen, die wir uns stellen und im Gruppengespräch unsere Antworten vortragen – ein zutiefst zu Herzen gehender Austausch. Mir kommt immer wieder das Bild vom Funken Gottgeist in mir in den Sinn, dass uns unser Meister Joseph Weißenberg geschenkt hat – in Liedern und Texten nähern wir uns diesem Bild, das vielschichtig, mit unterschiedlichen Begriffen ausgedrückt wird, aber für mich doch aus einer Quelle genährt ist … In Gesängen wird die Friedensbitte artikuliert; wahrer Frieden kann nur entstehen, wenn du in dir zum Frieden findest und diesen Frieden dann weiterträgst, geben uns Helge und Pierre mit … kommt dir das bekannt vor? Zu zweit, zu fünft sprechen wir über unseren Glauben, in der Vielfalt klingen die Worte des Geistfreunds vom Pfingstfest auf: der andere hat auch seine Aufgaben, einen anderen Weg, aber der führt auch zu Gott … ist es nicht herrlich, diese Verbundenheit zu spüren?

Ich darf von meinem Glauben reden, von der Schönheit und der Kraft, mich öffnen und Brücken schlagen … Wege, die andere Menschen in ihrer eigenen Verbundenheit zu Gott (manche sprechen von der Kraft, von einem höheren Wesen) gehen, bereichern mich. In meinem Tagebuch notiere ich: Es gibt so viel Gemeinsamkeiten unter den himmlisch und göttlich Bewegten … Bei allem klingt an, dass unser Leben nicht nur eitel Sonnenschein ist: Aufgaben sind oft schwer zu tragen, persönliche Schicksale … Lieben und Leiden, Verlieren und Finden, Kreuz und Auferstehung …

Wir singen: shalom – salam … vor meinen geschlossenen Augen erscheint das Bild des Rabbis aus Nazareth, wie er durch das staubige Land wandert: ER bringt den Frieden! Er bringt ihn zu uns, damit wir ihn leben, weitergeben; wir sind seine Hände, sein Mund, sein Gesang.

Helge erzählt uns eine, seine Vision: er, der viele Friedenslieder vertont und damit eine große Bewegung in Gang gebracht hat, sieht die Menschen diese Friedenslieder singend auf Straßen, Plätzen, in den Kirchen und Parlamenten … welch grandioses Bild, dass die Musik, diese einigende Kraft, die Menschen bewegt … gesungene Gebete nennt er seine Arbeit.

Eine andere Vision bringt mich an eine Grenze, als ich mich in sie hineinbegebe: ich sehe meinen Lebensweg vor mir ausgebreitet, fühle mit aller Macht eine Schwere, Bedrückung; keine Angst … ein Stern erscheint, der mich führt, mein Meister zeigt mir den Weg; es wird lichter … Verzweiflung und Zuversicht … Worte des 23. Psalms schwingen in mir: du salbest mein Haupt mit Öl, du schenkest mir voll ein … ich bin ein geliebtes Kind Gottes!

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Immer wieder Zeiten der Stille: die Wanderung zur Kapelle, das Verweilen darin … auf dem Weg bleibe ich stehen:

Innehalten nicht gleich das Ziel vor Augen den feuchten Duft des Waldes mit allen Sinnen wahrnehmen die Harmonien des Wildbachs in eigenen Klang verwandeln ein stilles Gebet Gesang in der Kapelle, der den Raum und die Herzen in Resonanz bringt in den Sonnenstrahlen, die über den Berg hereinbrechen, die Hitze des neuen Tages wahrnehmen neue Wege gehen Pax Montana: finde ich Frieden? den Milchschaumblasen schweigend beim Zerplatzen zusehen angekommen im neuen Tag welche Wege gehe ich heute?

Im Augenblick verweilen, das Wichtige erkennen, ohne das große Ziel aus den Augen zu verlieren – ist das eine Kunst, oder ist das die tägliche Übung des Lebens?

Ich merke, dass ich mir oft nicht diese „engagierte Gelassenheit“ nehme, die ich mir doch wünsche. Eine meiner Lebensaufgaben, diesem, meiner inneren Kraft, die ja von Gott genährt ist, näherzukommen? Ein Stückchen ist das, so empfinde ich es, in den letzten Tagen passiert.

„Wenn du angekommen bist, kannst du gehen“, sagt Thomas in einer Runde. Jetzt sitze ich im Zug nach Hause, alle Verbindungen sind pünktlich … Bin ich angekommen, bei mir? Gehe ich weiter? Wie gehe ich weiter? Das Leben wird es mir zeigen.

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