Nathan lernt das Sehen

Gemeindebrief
von Noraert T.
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„Shalom, liebe Kinder“, so beginnt eine unglaubliche und wunderbare Geschichte, die ich in einem Dorf bei Jerusalem gehört habe. - „Wie ist das möglich?“ , wirst Du fragen. Wenn Du der Erzählung folgen willst, musst Du mit mir fast 2.000 Jahre zurück in der Zeit reisen, denn dort erzählt Nathan den bedeutsamsten Teil seiner Lebensgeschichte.

„Seit meiner Kindheit hatten mich meine Eltern zum Tempel mitgenommen und dort hingesetzt, damit ich meinen Teil zum Lebensunterhalt erbetteln konnte, denn ich war blind. Von Weitem hörte ich einen Aufruhr im Tempel. Ein Mann aus Nazareth, hatte die Stände der Händler und Geldwechsler umgestoßen und laut gerufen, dass das Haus Gottes ein Ort des Gebetes sei. Empört über diese Aussage zogen die Händler, Priester und Schriftgelehrte an mir vorbei. Ich hörte ihre Empörung und dachte bei mir, warum sie gegen diese Wahrheit standen: Der Tempel Gottes war doch wirklich ein Haus des Gebetes. - Warum also ihr Zorn? Ein paar Tage später, ich hatte bereits mehr über diesen mutigen, die Wahrheit liebenden Mann gehört, wurde mir berichtet, dass der Hohe Rat ihn verhaftet hatte und von Pontius Pilatus zum Tode verurteilen lassen wollte. So bat ich einen jungen Mann mich zum Palast mitzunehmen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass man einen Menschen, der das Gute und die Liebe Gottes gepredigt hatte, wirklich verurteilen würde.

Auf dem Vorplatz des Palastes spürte ich eine Hass erfüllte Stimmung, hörte den Hohen Rat ihre Klage vorbringen und Pontius Pilatus laut in die Menge rufen: Er stellte zwei Gefangene zur Freilassung zur Wahl: einen Schwerverbrecher und den Prediger Jesus von Nazareth. Ich war mir sicher, dass das Volk sich für Jesus entscheiden würden.

Die Menschen, blinder als ich, trotz gesunder Augen, schrien, dass Jesus gekreuzigt werden sollte. Er, der die Barmherzigkeit und Friedfertigkeit, die Liebe zum Nächsten gepredigt hatte, sollte am Kreuz sterben. Was ich hörte, war unvorstellbar ungerecht. Johannes, der mich begleitet hatte, nahm Maria und mich mit auf den Kreuzweg nach Golgatha. Ich fühlte ihre Trauer und ihren Schmerz, aber nicht einmal den Anflug von Hass. Er, der Schüler, sie, die Mutter, hatten die Lehre der Liebe und des Verzeihens in sich aufgenommen und konnten mir beides vorleben.

Auf dem Hügel Golgatha waren viele Neugierige. Ich hörte die Hammerschläge, fühlte seine Wunden und begann innerlich zu sehen, was dort geschah. Trotz aller Schmerzen begann Jesus zu reden. Zwei Worte sind mir besonders in Erinnerung: er übertrug seinem Jünger Johannes die Fürsorge für Maria, er dachte also selbst am Kreuz leidend zuerst an seine Liebsten, und er sprach:„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ - Er bat unseren Vater im Himmel um Vergebung der Sünden, die andere ihm angetan hatten. Welche Größe und Nächstenliebe!

Der Weg zurück in die Stadt war beschwerlich. Ungefragt bot mir Johannes an, mit ihnen zu gehen. Man begrüßte mich, den Fremden, an einem geheimen Ort herzlich und ohne Fragen. Wir saßen zusammen, Brot und Wein wurden weiter gereicht. man erinnerte sich an den letzten Abend mit Jesus in stiller Trauer. Ich hörte zu und erkannte, wer dieser Jesus von Nazareth war. Denn mit meinen inneren Augen sah ich, was mir berichtet worden war.

Am nächsten Tag saß ich wieder an meinem Platz am Tempel. Am dritten Tag nach seiner Kreuzigung gab es eine große Unruhe im Tempelbezirk. „Jesus ist auferstanden von den Toten. Sein Grab ist leer!“ Alles, was Jesus prophezeit hatte, war Wahrheit geworden. Diese Frohe Botschaft wollte mir Johannes verkünden. Ich fühlte, dass etwas Großes geschehen war. Ich erfuhr vieles über Erlebnisse der Jünger mit ihrem Meister. Ich begann zu glauben. Ein neues Leben hatte begonnen.

An einem Nachmittag, wir saßen wieder zusammen, wurde es plötzlich hell im Raum. Alle Gespräche verstummten und ich sah eine Gestalt. Ja, ich sah, ich sah die Helligkeit und einen Mann in unserer Mitte stehen. Ich sah ihn und konnte es gar nicht begreifen. Er begrüßte uns mit den Worten: „Friede sei mit euch!“ - Ich hörte seine Stimme, und ich konnte seine liebevollen Gesichtszüge erkennen. Mein Glaube hatte mich sehend gemacht. Aus dem Hören war ein Kennenlernen geworden, aus dem Kennen ein Erkennen, aus dem Erkennen der Glaube und aus dem Glauben ein neues Sehen.

Nun, nicht mehr blind, ging ich zum Tempel, um zu danken, sah meine Eltern endlich mit sehenden Augen und begann mein Leben zu ändern. Am 50. Tag nach dem Passah-Fest, an dem das jüdische Volk das Fest der Weizenernte feiert, war Jerusalem wieder gefüllt mit Gästen von überall her. Auch wir saßen an diesem Tag zusammen.

Plötzlich hörten wir ein Brausen und sahen kleine Flammen, die sich auf unsere Köpfe senkten. Wir spürten eine tiefe Freude und den Drang, allen Menschen das Evangelium zu verkünden, die Frohe Botschaft, dass unser Vater im Himmel Jesus Christus gesandt hat, um sich mit uns zu versöhnen. Alle Angst wich. Wir traten auf die Straßen und Plätze und predigten in vielen Sprachen und Worten, die uns der Heilige Geist geschenkt hat.“

So, liebe Kinder, es ist spät geworden. Ich kann wie ihr die ersten Sterne sehen, obwohl ich doch blind geboren war. Vergesst nicht, Gott zu danken für eure Gesundheit, euren Glauben, offene Ohren, ein fühlendes Herz und sehende Augen. Shalom!“